Dienstag, 5. Dezember 2006

Hypertext

Gasteiner, Martin / Krameritsch, Jakob: Schreiben für das WWW: Bloggen und Hypertexten, in: Schmale, Wolfgang (Hg.): Schreib-Guide Geschichte, 2. Aufl., Wien 2006 (UTB), S. 243 – 247.
Alle Zitate wurden aus diesem Text entnommen.


Hypertext zeichnet sich durch die Prinzipien der Nichtlinearität, der Assoziation und Vernetzung aus; HistorikerInnen bietet sich etwa die Möglichkeit, ein Thema nach unterschiedlichen Gesichtspunkten zu durchwandern. Als leitendes Strukturierungs-Prinzip gelten dabei Querverbindungen, eben Links, die Textbausteine zu Netzwerken zusammenwachsen lassen. Es entstehen assoziative Schreib- und Leseräume, die aber auch Gefahren in sich bergen können: etwa die Gefahr des "lost in hyperspace"-Effekts.
Hypertexte weisen per se offene Enden auf, sie gleichen einen work in progress und eignen sich ausgezeichnet dazu, in Team-Arbeit produziert zu werden, wobei die Ergebnisse auch sofort sichtbar gemacht werden können.

Nichtlinearität
Hypertexte sind netzwerkartig angeordnete, nichtlineare Texte. Das heißt nichts anderes, als dass Hypertexte keinen definierten Anfang haben, keinen Hauptteil und auch keine alles integrierende Conclusio (S. 245).
Der wesentliche Unterschied etwa zu wissenschaftlichen Monographien muss dabei in der Konzeption gesucht werden. Denn auch bei eben einer solchen wissenschaftlichen Monographie besteht die Möglichkeit zwar einen Pfad durch das Netz ("linear") zu wählen, dies aber aus einer Vielzahl von möglichen Pfaden ("Multilinearität"). Die Autoren bezeichnen Zettelkästen als Vorläufer des Hypertextes und definieren als einzig wirklich lineare Texte mündliche Erzählungen, also Monologe. Um auf die Frage der Konzeption zurückzukommen: Hypertext kann im Gegensatz zu wissenschaftlichen Monographien gar nicht linear rezipiert werden. Hier führen die Autoren die Ideen der Sprachwissenschafterin Angelika Storrer ein, die zwischen medialer und konzeptioneller (Nicht-)Linearität bzw. zwischen unterschiedlichen Abstufungen von Sequenziertheit unterscheidet. Bei monosequenzierten Texten etwa plant der/die AutorIn einen thematisch kontinuierlichen Leseweg; die Textsegmente lassen sich nicht ohne Risiko für das Verständnis umstrukturieren oder austauschen. Mehrfachsequenzierte Texte bieten verschiedene Lesewege an, so dass der Text zu verschiedenen Zwecken je abschnittsweise gelesen werden kann. Diese Texte können aber auch als monosequenzierte Texte gehandhabt werden. Unsequenzierte Texte schließlich sind schließlich Texte, die in gänzlich beliebiger Abfolge gelesen werden können, wobei die Textbausteine meist durch Verweise miteinander verknüpft sind (z.B. eben Hypertext).
Hypertext zu rezipieren setzt ein Lesen am Computer-Bildschirm voraus, da sonst die "hypertextspezifischen Mehrwerte verloren" gehen (S. 250). Um Theodor Holm Nelson zu zitieren, der den Begriff Hypertext 1965 einführte:
Let me introduce the word hypertext to mean a body of written [...] material interconnected in such a complex way, that it could not conveniently be presented or represented on paper (Nelson, zitiert auf S. 250).
Weiter:
Hypertexte im engeren Sinn sind also computerverwaltete, unsequenzierte Texte (S. 251).

Fragementierung und (Re-)Kontextualisierung
Bei den elementaren Bausteinen von Hypertexten handelt es sich um "informatielle Einheiten", also inhaltliche Submodule. Diese werden in einem zweiten Schritt verlinkt.
Hypertext bedeutet ein Spiel mit Fragmentierung und (Re-)Kontextualisierung, (S. 251).
Besagte "informatielle Einheiten" müssen jeweils für sich verständliche, modulare, das heißt kohäsiv geschlossene Texte sein, da die UserInnen eines Hypertextes nicht mehr einem, durch die AutorInnen präfigurierten monosequenzierten Argumentationsstrang folgen. Diese Texte müssen nicht nur kohäsiv, sondern auch kontextoffen sein, das heißt, sie sollten möglichst viele Aspekte in sich tragen, um eine Verlinkung zu ermöglichen. Wichtig beim Verfassen solcher Texte ist auch die Frage ob sie "bildschirmgerecht", folglich also nicht zu lang sind. Das bedeutet, dass Hypertexte kurz und prägnant sein müssen; ihre Bausteine müssen aus sich heraus Sinne ergeben und zum Weiterschmökern animieren und Link-Angebote geben. Im Rahmen der "Hypertext-Dramaturgie" ist auch das Setzen von gezielten Links außerordentlich wichtig, da ein Hypertextnetz durch die Linksetzung mehr als die Summe seiner Teile wird. Wichtig dabei ist, Kohärenz bilden zu können, was bedeutet, einen individuellen Sinnzusammenhang herstellen zu können; dem geht allerdings Kohärenzplanung voraus. Typisierte Links können bei der Gewährleistung von Kohärenz helfen; hier kommt nämlich zum Ausdruck in welcher Beziehung die verknüpften Inhalte stehen. Die Links werden dabei mit einem "Label" oder "Attribut" versehen. Dadurch wird angegeben, über welchen Aspekt eine Verknüpfung generiert wird, was auch die Möglichkeit einer Kontextualisierung schafft.

pastperfect

Die Autoren gehen nun im Folgenden näher auf das Webprojekt www.pastperfect.at ein. Zuerst erfolgte eine thematische Gliederung der "Zuständigkeitsbereiche". Trotzdem war aber bereits hier eine Zusammenarbeit unabdingbar, da gemeinsame Standards entwickelt werden mussten. Es ging dabei um die Erstellung von "fließenden Übergängen" auch jenseits von individueller AutorInnenschaft um eine kollektive Homogenität anzustreben. Es musste ein Schreibstil entwickelt werden, der sowohl Repräsentationsformat als auch dessen Rezeptionsmöglichkeiten mit bedenkt. Auch das Schreiben, kann argumentiert werden, ist dabei "vernetztes Schreiben" – es wird dabei zu einer Tätigkeit in der Gruppe.
Bei der Verlinkung wurde das Team durch ein Content Management System (CMS) unterstützt, nämlich durch das CMS "Virtual Museum System" (VMS), welches die Vernetzung mehrfach verknüpfter gleicher Datensätze selbstständig erfragt und diese in Form von "Querlinks" am Interface abbildet. So fungiert z.B. im konkreten Fall von pastperfect die Kurzbiographie von Kolumbus als "Attribut", welches zwei informatielle Einheiten zusammen bindet. Durch das automatische Erstellung von Links wird einerseits das mühsame selbstständige Setzen von Links obsolet; andererseits werden so typisierte Links generiert, die den Vorteil mit sich bringen, aufweisen zu können, über welchen Aspekt zwei Informationseinheiten miteinander verknüpft sind und zu welcher Informationseinheit der Pfad führt. Es handelt sich bei der Vernetzung der Einheiten um eine der zentralen intellektuellen Herausforderungen, da bei jedem möglichen Attribut nachgeprüft werden muss, ob es als solches geeignet ist - es geht um sinnvolle Kategorisierungen und auch Hierarchisierungen. Die Autoren widmen sich nun auch der größten und am schnellsten wachsenden Online-Enzyklopädie der Welt - Wikipedia. Das System welches Wikipedia zu Grunde liegt - MediaWiki - oder ähnliche Systeme zur kooperativen Erstellung von Inhalten werden heutzutage auch verstärkt in Schulen und an Unis eingesetzt, wie z.B. der Hypertextcreator, auch ein CMS. Es wird versucht, "Produktions-Potenziale" von Hypertext für den Uni-Betrieb fruchtbar zu machen, wobei auch mit Attribut-Zuweisungen operiert wird.
Abgerundet wird der Text durch einige Zitate, die als weiterführende Gedanken über das Denken und Schreiben in hypertextuellen Strukturen gedacht sind. Luhman beschreibt wie durch das Verwenden eines Zettelkastens eine Art Zweitgedächtnis entsteht und dass jede Notiz erst durch das Netz der Verweise ihre Qualität erhält. Wittgenstein meint, dass es unnatürlich sei, die Gedanken dazu zu zwingen, einem Gleise entlang laufen zu zwingen. Norbert Gabriel beschreibt die implizite Referentialität eines jeden Textes, aufgrund derer jeder Text schon ein multipler ist.

Kommentar
Der vorliegende Text gestaltet sich informativ und gut strukturiert; es gelingt ihm, die essentiellen Wesensmerkmale eines Hypertexts darzustellen, wobei sich die Autoren mehr oder weniger explizit an AnfängerInnen richten. Wichtig scheint den Autoren zu sein, zwei Dinge besonders zu betonen: Einerseits das Arbeiten im Team, welches für das Herstellen eines Hypertextes unabdingbar ist und aber auch die Besonderheiten eines Hypertextes, eben die Merkmale, die einen Hypertext eben von einem in der Form einer wissenschaftlichen Monographie erschienen Text unterscheiden. Bei der Lektüre der weiterführenden Gedanken stellten sich mir einige Fragen auf. So sprechen die Autoren etwa davon, dass es auf der Ebene der Verknüpfung um sinnvolle Kategorisierungen und auch Hierarchisierungen geht. Gleichzeitig wird aber auch Jay D. Bolter zitiert mit: "A text as a network may have no univocal sense. It can remain a multiplicity without the imposition of a principle of domination. In place of hierarchy, we have a writing space that is not only topical; we might even call it 'topographic'" (Bolter, zitiert auf S. 270). Die Frage die sich mir stellt, ist nämlich ob diese Idee nicht reichlich naiv ist - und zwar die Vorstellung, dass Hypertext ohne das "principle of domination" auskommen könnte. Viel einleuchtender und schlüssiger fand ich etwa das von den Autoren selbst gewählte Beispiel, was es doch für Implikationen hätte, auf das Attribut "Inkas" zu verzichten. Von den GestalterInnen eines Textes selbst gewählte gewichtete Attribute halte ich persönlich für wichtig. Um es vielleicht etwas politisierter auszudrücken: Jahrhundertelang wurde im Rahmen der Conquista kaum vom Leiden von Millionen Indigenas in Lateinamerika berichtete; jetzt ist die Zeit reif dafür, auch diesen Aspekt in einer ihm gebührenden Weise zu betrachten. Und jetzt soll dieser Aspekt auf einmal genauso wichtig wie die Tatsache sein, dass die drei Karavellen von Kolumbus Niña, Pinta und Santa Maria hießen? Eine sinnvolle Hierarchisierung erscheint nicht zwangsläufig von einem Tag auf den anderen obsolet geworden zu sein, nur weil wir uns im Hypertext bewegen.
Was den von den beiden Autoren beschrieben Hypertextcreator, der auch im Uni-Betrieb - etwa in einer Lehrveranstaltung - Verwendung finden könnte, ergaben sich bei mir einige zweifelnde Gedanken ob der Realisierungsmöglichkeiten - um einen wirklich guten Hypertext wie etwa pastperfect erstellen zu können und somit auch das Potential des Mediums voll und ganz nutzen zu können müssen eben viele (und auch gute) WissenschafterInnen sich beteiligen. Es soll sich hierbei nicht um eine generelle Verneinung der Sinnhaftigkeit eines solchen Einsatzes im Uni-Betrieb handeln - man/frau müsste mir aber die Realisierbarkeit erst verdeutlichen.
Rainer Kuhlen spricht von wirklich neuen Medien der Darstellung und Verwaltung von Wissen und der Erarbeitung von Informationen (vgl. S. 270). Bei all diesem durchaus berechtigen Lobgesang auf den Hypertext und die neue Form der Wissensorganisation und -"Herstellung" fällt mir persönlich aber etwas negativ auf, dass kein einziger Gedanke daran verschwendet wird, dass es doch auch Menschen auf der Welt gibt, die sich trotz eben des "demokratischeren" Zuganges zur Wissenserstellung - bedingt durch den leichtern Zugang - eben nicht an diesem Prozess beteiligen werden können.

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