Sechster Beitrag

Donnerstag, 23. November 2006

pastperfect.at – eine Rezension

Pastperfect überfordert eineN auf den ersten Blick gehörig. Angeboten werden kurze und bündige informative Texte, Biographien ein Glossar und vieles mehr. Als selbstgestecktes Ziel wird dabei eine Annäherung an die Zeit zwischen Reformation und Renaissance formuliert, genauer gesagt an die europäische Geschichte zwischen 1492 und 1558. Für jedes Jahr (die Jahre können übrigens per Kompass „anvisiert“ werden) sind etwa vier bis fünf wichtige Ereignisse genannt, zu denen auch viele weiterführende Artikel angeboten werden, was eine Kontextualisierung ermöglicht. Aber nicht nur der „rein“ europäischen Geschichte sind Texte gewidmet, ebenso können Informationen über die Kolonialreiche etwa in Lateinamerika gewonnen werden (mit Hilfe eines „Schiffs“ kann näher ran- oder weiter weggezoomt werden). Wenn man/frau sich nun etwa den Text über „Behaims Globuskonstruktion“ zu Gemüte führt, werden in einer Leiste, die über dem Text situiert ist, einige Kategorien angegeben – in diesem Fall etwa „Entdeckungen, Frau, Geist, Wissenschaft“, die Rückschlüsse auf die Aspekte geben, entlang derer die AutorInnen die Texte aufgebaut haben oder die bei der Erstellung des Textes besonders beachtet worden sind (wobei mir z.B. bei diesem konkreten Beispiel nicht ganz klar ist, warum sich „Frau“ in die Auflistung eingeschlichen hat, aber wie dem auch sei). Die Frage nach der Quantität der Ereignisse lässt sich nicht leicht beantworten: Auf der StarterInnen-Site wird etwa von rund 700 Texten von 60 AutorInnen gesprochen; pro Jahr können wie oben bereits erwähnt vier bis fünf „Haupt“ereignisse angeklickt werden, zusätzlich gibt es noch unzählige „Unterpunkte“ beziehungsweise Texte mit weiterführenden Informationen.

Auf hoher See – ein Versuch der Navigation
Das Navigieren im Universum von past.perfect bereitet aufgrund der Fülle der Informationen zwar dieselben Orientierungsschwierigkeiten, die sich auch beim Besuch einer gut bestückten Bibliothek bieten (wo fange ich an?), es bereitet aber auch Freude – man/frau sieht richtig, welchen Spaß die MacherInnen dieser verspielt anmutenden, und doch den wissenschaftlichen Standards entsprechenden Seite beim Zusammenstellen der Informationen hatten.
Was das Bahnen des Weges durch das pastperfect-Universum betrifft, gibt es mehrere Wege. Einerseits können sich die UserInnen mit Hilfe des Unterpunktes „Ereignisse“ auf den medialen Pfaden bewegen. Hier können auf der Landkarte auch mehrere Städte (auch eine in Lateinamerika) angeklickt werden. Besonders ergiebig gestaltet sich dabei der Menüpunkt „Kontexte“:Für das Jahr 1492 werden mehrere Texte angeboten, die sich mit der Person Christoph Columbus auseinandersetzten – und das auf einer Metaebene. Hier werden wichtige Probleme und Veränderungen der europäischen Gesellschaft beschrieben, die durch die Entdeckung des amerikanischen Kontinentes initiiert wurden, wie etwa die konstatierte Erweiterung des Blicks, Kommunikationsprobleme zwischen Konquistadoren und „Einheimischen“ etc. Interessant dabei ist, dass durch das Anklicken eines bei im Menüpunkt Kontexte gefunden Textes zu Christoph Columbus sich auch die angegebenen Ereignisse ändern und mehr Texte im Unterpunkt Kontexte aufgezeigt werden. Hier soll wahrscheinlich relativ deutlich (und auch gelungen!) gezeigt werden, dass ähnlich wie eine gut verlinkte Datenbank auch der/die HistorikerIn Querverbindungen schaffen soll.

Fallbeispiel: Martin Behaim
Weiter im Text: Falls zwischendurch etwas nicht klar sein sollte, besteht immer die Möglichkeit, etwaige Wissenslücken durch das Aufrufen der Funktion „Biographie“ oder „Glossar“ zu stopfen. Wenn man/frau sich erst einmal im Bereich „Kontexte“ befindet, kann beobachtet werden, dass dieser Unterpunkte seinem Namen auf jeden Fall alle Ehre macht. Fall ich mich etwa weiter für das Ereignis „Martin Behaim“ interessiere und hier den dazupassenden weiterführenden Text „Genuese als Vizekönig“ anklicke und mich hier auch auf das unüberschaubare Terrain „Kontexte“ – in dem Fall etwa Unterpunkt „Vizekönige“ und Unter-Unterpunkt „Entdeckungen: Amerika und Pazifik“ – vorwage, werde ich mit vielen weiteren, zur Kontextualisierung benötigten Texten belohnt, wie etwa Informationen zu den Themen „Alltag“, „Geist“, „Gesellschaft“, „Krieg“ und vieles mehr. Es handelt sich hierbei um zu anderen Ereignissen in Beziehung stehenden Kontext-Informationen, die ich hier in welcher Kombination und je nach Interessenslage kombinieren kann. Natürlich wird auch die Möglichkeit angeboten, direkt und gezielt nach einzelnen Schlagwörtern zu suchen (und zwar über die „Such“-Funktion). Übrigens verändern auch die auf der Landkarte angeklickten (oben erwähnten) Städte die Kontexte und Ereignisse. Alles in allem sehr interaktiv. Zusammenfassend: Ich kann also etwa konkret nach einem bestimmten Begriff oder einem bestimmten Ereignis suchen, oder ausgehend von einem geschichtlichen Faktum einige in Zusammenhang stehende weitere geschichtliche Tatsachen betrachten; oder einfach von hinten nach vorne die Geschicht quer lesen und von einer Beschreibung der Kastillianischen Kolonialverwaltung zum Themenkomplex Frühkapitalismus kommen - ganz wie ich will.

Selbstbeschreibung und Formalia
„Ein datenbankgestütztes Hypertextnetzwerk mit über 700 Texten von mehr als 60 AutorInnen ermöglicht assoziatives und gezieltes Navigieren durch Raum, Zeit und Inhalt.“
Das wollen die MacherInnen von pastperfect bieten – eine Aufgabe, die sie auf jeden Fall erfüllt haben. Pastperfect ist ein Projekt, welches in Kooperation mit dem Institut für Geschichte an der Universität Wien und Van Gogh TV entstanden ist; die Zielsetzung sah dabei vor, wissenschaftliche Inhalte medienadäquat zu vermitteln, und das bei Ausnutzung der Potentiale des Hypertext. Explizit will die Seite auch eine breitere, an der Geschichtswissenschaft interessierte Öffentlichkeit erreichen; wobei bemerkenswert ist, dass die Texte voll und ganz auf die Bedürfnisse des Mediums maßgeschneidert sind (auch Audiovisuelles hat sich etwa hierher verirrt). Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der Wissenschaftlichkeit, wobei ich hier auf keinen Fall den AutorInnen unterstellen will, sie hätten unwissenschaftlich gearbeitet. Negativ fällt nur auf, dass pastperfect eher nicht zum Zitieren etwa in Seminararbeiten u.ä. geeignet ist, da bei Texten oft nicht einmal der volle Name des/der AutorIn, sondern nur ein Kürzel, angegeben wird. Verweise auf Zitierregeln fehlen vollends, auch die Sekundärliteratur wird nicht anschließend an jeden einzelnen Artikel, sondern gesammelt in einem eigenen Punkt „Literatur“ angegeben. Immerhin gibt es eine Druckfunktion, keine langen Ladezeiten, keine nervigen Flashanimationen und keine Werbung. Was mich persönlich etwas verwundert hat, ist, dass es keine externen Verlinkung auf andere wissenschaftliche Seiten oder Fachportale gibt. Hinweise auf regelmäßige technische und inhaltliche Wartung der Seite konnte ich leider auch nicht ausmachen. Was aber, anders als externe Verlinkungen schon angegeben wird, sind etwaige Pressestimmen (etwa die durchaus als euphorisch zu bezeichnende Kritik des Profil).

Kreativ, vernetzend und verlinkend – das Rhizom
„Das Hypertextgebilde bietet Formen- und Perspektivenvielfalt statt Eindeutigkeit, Rhizome statt auf ein Ziel hin determinierte Pfade,“ heißt es auch etwa bei der Projektbeschreibung. Auf die „master narrative“ wird geflissentlich verzichtet, klar ersichtlich ist dabei, dass es auch deshalb keinen einheitlichen wissenschaftlichen Ansatz geben kann.
Pastperfect will zum kreativen, verlinkenden Denken anregen, und bewegt sich an den Schnittstellen zwischen Forschung, Kunst, Vermittlung und Wissenschaft. Es werden dabei verschiedene, einander vielleicht auch widersprechende Interpretationen angeboten, aus dem der/die mündige und denkende BenutzerIn auswählen, und sich entweder eine eigene Erklärung zusammenschustern oder mehrere gleichwertige, nebeneinander existierende Deutungsstränge geschichtlicher Ereignisse akzeptieren kann. Anschaulichkeit ist scheinbar das oberste didaktische Prinzip – man/frau will auf jeden Fall Interesse wecken, Interesse wecken zum Weiterlesen; die Lust an der Geschichtswissenschaft steht im Vordergrund. Weg vom oftmals öden Geschichtsunterricht und selbstständige Interessensfindung erscheinen mir zwei wichtige Prinzipien zu sein. Wichtig ist die Interaktion, die Aktivierung mehrer Wahrnehmungskanäle währendes des Lernprozesses, die Abkehr vom schnöden SenderInnen-EmpfängerInnen-Modell. Wichtig zu erwähnen sind natürlich auch der Netzwerkcharakter des Mediums Internet, vor allem die Möglichkeiten zur kollektiven Interaktion und kooperativen Lernprozessen zwischen – und das darf nicht vergessen werden – Menschen.

Rezeption
Wenden wir uns wieder den Angeboten von pastperfect zu: Besonders interessant erscheint dabei der Punkt „Rezeption“ zu sein. Dieser geht meiner Meinung nach in eine ähnliche Richtung wie etwa die Hompage http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/europaquellen/, die sich explizit mit Europavorstellungen und Europabildern auseinandersetzt. Hier widmen sich die AutorInnen der Rezeptionsgeschichte einiger wichtiger europäischer Werke, wie etwa der des „Don Quixote“ von Cervantes, der Spanischen/Französischen/usw. Erziehungsliteratur, aber auch etwa „Schlüpfrigkeiten“ wie etwa pornographischer Werke. Denn schließlich entstanden diese und ähnliche Werke nicht in einem luftleeren Raum, sondern im Kontext von gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Prozessen – im Fall des „Don Quixote“ etwa in einem Zeitalter massivster Veränderung, verbunden mit Bedeutungsverlusten für eine bis dahin führende gesellschaftliche Schicht. Auch ist es sicher von Bedeutung zu wissen, was für ein Menschenbild etwa die humanistische Erziehungsliteratur vom (europäischen) Menschen entwarf und was es gleichzeitig aber auch für Ausschließungsmechanismen („die Anderen“, die „Unzivilisierten“) gab – hier kann etwa die Rezeptionsgeschichte von Reiseberichten in die terra incognita (also etwa Amerika) mit dem vorher erwähnten entworfenen Bild zu verglichen werden. Was für herrschaftliche Attribute schrieben etwa zeitgenössische Autoren einem Karl V. zu? Das einzige, was bei diesem sehr ergiebigen Unterpunkt negativ auffällt, ist die im Gegensatz zum „Kontext“- oder „Ereignis“-System etwas chaotisch und vor allem schlecht anklickbar ausgefallene Einbettung.

Reflexion
Der Unterpunkt „Reflexion“ ist besonders Heraushebenswert: Hier wird über das Potential des Mediums Internet bei der Vermittlung von geschichtswissenschaftlichem Wissen nachgedacht. Die Struktur des Mediums – vor allem dank seiner mannigfaltigen Möglichkeiten zur Vernetzung – unterläuft die Monomedialität des Buches; gefordert wird – äußerst revolutionär und vielleicht noch mancherorts umstritten – eine gewisse Revision auch verfahrender Denkweisen von WissenschafterInnen. Als Gegenstandsbereich soll so etwa nicht die buchgebundene Literatur, sondern die transmediale Sprachkunst akzeptiert werden, um ein Optimum der Präsentation der gewonnen Erkenntnisse zu ermöglichen – es wird von grundlegenden Veränderungen gesprochen. Auch einige lesenwerte Exkurse zum Thema „Medienphilosophie“ können gefunden werden. So werden etwa Deleuze und Guattari zitiert, nämlich ihre Metapher des Rhizoms: Hier sei nur erwähnt, dass es sich dabei um die Ermöglichung der Verkoppelung verschiedenster Ströme, sich in alle Richtungen erstreckende Konnexionen handeln soll – ein Hoch auf die transversalen Verbindungen kann auch als philosophischer Hintergrund der Entstehung von pastperfect gedeutet werden. Auch die ästhetischen Anforderungen an das Medium Internet werden behandelt. Spannend sind hier auch die Texte, die darauf eingehen, was bei der Erstellung von fürs Internet gemachten Texten zu berücksichtigen ist. (Besonders gut gefallen hat mir die Bezeichnung von Schneisenlinks als „Proletarier“ unter den Begriffen). Spannend und überbordend gestaltet sich der Punkt „Reflexion“, in dem es genau um das geht, was der Titel impliziert. Um die Möglichkeiten und Schwachstellen bei der Wissensvermittlung per Internet; es geht aber auch um mehr, nämlich um die Frage, in welchen Gesamtkontext die Veränderungen in der Lehre zu stellen sind. Schließlich wird vielerorts auch konstatiert, dass das Fragmatisierte, Atomatisierte und dennoch im Zusammenhangstehende eher unserer post-fordistischen Lebenswelt entspricht, als das trügerische Gefühl, bei A anzufangen und schließlich weise geworden bei Z das Buch zu schließen.

Fazit
Bei pastperfect handelt es sich um eine außerordentlich gut gemachte Site, in der merkbar viel Anstrengung und Überlegung steckt. Abgesehen von den interessanten und lesbar aufgearbeiteten „harten“ historischen Fakten haben sich aber auch spannende Gedanken nach dem Sinn des Mediums Internet auf die Seite „verirrt“, die ich persönlich am Aufschlussreichsten fand. Vernetzendes Denken soll gefördert und das lustvolle Geschichteschreiben und –lernen in den Vordergrund gerückt werden. Manches Mal zwar etwas überfordernd, ist das „Durchkämpfen“ durch den pastperfect-Dschungel aber auf jeden Fall so manche Stunde wert: Es hat richtiggehend Spaß gemacht, dieses Seite zu rezensieren.

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